Dynamitfabrik Lind

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Das Verfahren[Bearbeiten]

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte durch neue Produktionstechniken für Nitroglycerin als Sprengöl und Dynamit ein Gründungsboom von Sprengstoff-Fabriken besonders im Kölner Raum ein. Dadurch kam es in der Folge auch zu etlichen Fusionen, so dass Unternehmensnamen häufig wechselten und mitunter rückschauend die Eigentümerlage unübersichtlich wird. Die Fabriken waren ähnlich aufgebaut: Zunächst wurde Salpetersäure hergestellt und mit Schwefelsäure gemischt in Nitrierbottiche gefüllt. Durch Zugabe von Glycerin entsteht so Nitroglycerin. Dieses wurde gewaschen und getrocknet. Wird Kieselgur hinzugefügt, entsteht Dynamit. Alle Produktionsschritte müssen sorgfältig, mal unter Kühlung, mal unter Mindesttemperaturen, erfolgen.

Die Fabrik[Bearbeiten]

Die Brüder Gerhard und Alfred Carstens kauften um 1880 das früheren Jahren von der Felten & Guilleaume genutzte Grundstück in Lind auf der Linder Höhe. Ihr Ziel war die Errichtung einer Fabrik zur Herstellung von Explosivstoffen, für die sie alsbald die notwendige Lizenz erhielten. Im Juli 1883 nahm die Deutsche Sprengstoff AG Hamburg (DSAG) die Produktion auf, die Gebrüder wurden Aktionäre. Das Werk selber wurde durch Spezialisten der Kölner Dynamitfabrik errichtet und dann auch geleitet. Bereits in den Jahren 1884/85 vergrößerten weitere Gebäude die Fabrik erheblich. Die allgemein einfach Dynamitfabrik Wahn genannte Fabrik verfügte über ein eigenes Wasserwerk. Seit 1886 fertigte das Werk auch Pikrinsäure. 1892 gehört das Werk zur Sprengstoff-Gesellschaft Kosmos, Hamburg. "Die gesamte Fabrikanlage bei Porz samt den überseeischen Lagern stand bei Ablauf des Jahres mit 281.520 M. (293.645 M.) zu Buch, während an Rohstoffen und Warenvorräten für 209.776 M. (350.284 M.) vorhanden waren"[1]. Ab ca. 1907 gab es auch eine Geschoßfüllstelle, auf dem Gelände lagerte zudem auch Sprengstoff. Nach etlichen Unfällen zu Beginn des Jahrhunderts verbesserten Änderungen in den Produktionsverfahren die Sicherheit erheblich, zehn Jahre geschahen keinen nennenswerten Unglücke mehr. Eine Dampfspeicherlokomotive, gebaut in der Maschinenfabrik Esslingen (Nr. 3654 B-fl, Spurweite 1435), wurde im Jahr 1911 an das Werk nach Wahn ausgeliefert. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs beschäftigte die Fabrik 130 Personen.

Inserat Lippische Tageszeitung v. 19.6.1917

Im ersten Weltkrieg entstand eine Presserei und Füllstelle von Kampfmitteln. Das Unternehmen erweiterte das Betriebsgelände ungenehmigt, aber mit Duldung des Militärs, auf 6 ha mit 340 Gebäuden, darunter 170 Fabrikgebäude. Vermutlich auch in dieser Zeit wurde der Wasserturm errichtet. In den Jahren 1915 bis 1917 erhielt die Fabrik drei Dampfmaschinen von der Maschinenbau-Aktiengesellschaft Marktredwitz vorm. Rockstroh geliefert. Im Jahr 1917 produzierten 7.000 in Wohnbaracken untergebrachte Arbeiter Granaten, Pulver, Dynamit, Pikrin und auch Kampfgas (Gelbkreuzgas). Viele von ihnen waren zwangsverpflichtet, Strafgefangene oder auch Kriegsgefangene. Gegen den Test der Kampfgase in der Wahner Heide protestierten 1916 die Rösrather Bürger. Denn es gab Atemwegserkrankungen und Ernteausfälle.

Ende des Jahres 1918 wird die Produktion nach einer verheerenden Explosion am 9. November, die 76 Betriebsangehörige tötete und viele schwer verletzte, zudem viele Betriebsanlagen zerstörte - dann aber auch im Rahmen der Entmilitarisierung - eingestellt. Der Betrieb wurde demontiert bzw. umgerüstet, die Belegschaft sank auf 1.500 Personen. Die DSAG verlegte sich nun auf die Beseitigung (Delaborierung) von militärischen Sprengstoffen und die Herstellung von Bergwerkssprengstoffen. Es entstand eine Munitionszerlegungsstelle, die bis 1924 im Betrieb war. Hier wurde auch ein besonderes Ausschmelzverfahren für Kaliumperchloratminen eingesetzt, es befand sich 1921 noch im Versuchsstadium. Im Jahr 1925 wurde ein Rheinkanal gebaut, um die Qualität des eingesetzten Frischwassers zu steigern, doch zum Jahresende 1926 ruhte der Betrieb entgültig.

1929 erfolgte der Abriss nahezu aller vorhandenen Gebäude, im Jahr 1935 kaufte die Deutsche Reichswehr die Flächen. Zwischen 1926 und 1942 bestand auf dem Gelände eine der größten Schäfereien Westdeutschlands. Die Wirtschaftsgebäude hierfür wurden Turmhof genannt, Namensgeber war der alte Wasserturm.

Unfälle[Bearbeiten]

1918: 17-Jähriges Opfer, Friedhof Wahn

Die Arbeiten waren gefährlich, es kam zu vielen Unfällen, darunter

  • 1884, Dezember: Explosion eines Waschkessels mit Nitrogycerinresten, ein Arbeiter wird getötet
  • 1885, August: Explosion einer Partonierbude, ein Maurer und ein Besucher sterben
  • 1900, 22. April: Explosion mit zwei Toten
  • 1900, 24. Spetember: Explosion nach Blitzeinschlag, drei Tote und mehrere Verletzte
  • 1904, 18. Mai: Explosion in der Denitrierung, ein Toter
  • 1907, 4. Februar: Explosion mit starken Sach- und Gebäudeschäden
  • 1907, 20. September: Explosion mit starken Sach- und Gebäudeschäden
  • 1918, 14. Juli: Explosion durch Blitzeinschlag in die Säurebude, ein Toter
  • 1918, 17. Juli: Explosion von gelagerten Seeminen, Zerstörung des Preßhauses; die Produktion ruht knapp 10 Wochen lang
  • 1918, 9. November: Um 7:02 Uhr nach dem Schichtwechsel Explosion im Geschossfüllraums, 76 Tote und viele Verletzte[2]. Die Explosion zwei Tage vor dem Ende aller Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs zerstörte Teile der Fabrik erheblich. Die Ursache - Unfall oder Sabotage - war nicht mehr zu ermitteln. Die Toten wurden auf dem Friedhof in Wahn beigesetzt, die Gedenkstätte mit den Gräbern gibt es noch heute.
Die Beerdigung der Opfer des Wahner Explosionsunglücks gestaltete sich zu einer eindrucksvollen, den vielen Teilnehmern unvergeßlichen Kundgebung. Das Massengrab war am Boden und an den Wänden mit frischem Tannengrün geschmückt. Etwa 60 schlichte schwarze Särge standen in dem Grabe. Der Gesangsverein der Dynamitfabrik sang mehrere Choräle. Ansprachen hielten Pfarrer Bosch (Wahn) und Pfarrer Mühlendyk (Porz).[3]
  • 1919, 16. Oktober: Explosion im Granatenzerlegungsbetrieb
  • 1922, 6. März: Brand mit Verpuffung in der Zumischpulverfabrik

Das Erbe[Bearbeiten]

Berliner Volkszeitung v. 8.4.1929

Beim Abriss der Betriebsanlagen im Jahr 1929 gab es noch große Bestände von Kampfgas (CLARK II) auf dem Grundstück, die im Auftrag der französischen Besatzungssoldaten um 1920 einfach vergaben worden waren. Das in Flaschen abgefüllt Blaukreuz wurde schon früher in vier Meter tiefen Gruben gelagert. 1925 scheiterte der Versuch, die Kampfstoffe zu verbrennen. Denn ein Windwechsel hatte die Wolken aus dem Kamin direkt in das Dorf Wahn geblasen und führte dort zu Brechreiz und Augenschädigungen. 1928 stritten sich die Behörden um die Beseitigung: Das Reichsfinanzministerium wollte den Kampfstoff in der Nordsee versenken, das Reichswehrministerium lehnte dies ab. So wurden der Kampfstoff 1929 vor Ort vergraben. Hierzu gossen Arbeiter in acht Meter Tiefe zunächst ein 30 cm hohes Zementfundament auf eine 30 cm hohe Tonschicht. Darauf setzten sie zwei drei Meter hohe Betongefäße mit 8 Meter Seitenmaßen. Die Wände waren 50 cm stark und innnen geteert. In einen dieser Betonsärge lagerten sie 20 Tonnen Diphenyl-Arsen-Cyanid in Flaschen, zudem Flaschenscherben und durchtränkte Erde ein. In den anderen Betonsarg kam wohl ausschließlich verseuchtes Erdreich, darauf drei Meter hoch reines Erdreich. Bei der Umlagerung gingen wohl etliche Flaschen zu Bruch. Daher berichtete der betreuende Arzt Dr. Bange später von zahlreichen erkrankten Arbeitern, die sich trotz Gasmasken, Schutzbrillen, Handschuhen und Gummistiefeln kontaminierten.

1971 konnte zunächst niemand mehr sagen, wo genau sich die Lagerstätte in der Umgebung des damaligen Instituts für Raumsimulation der DLVLR befindet ("keine 50 Meter entfernt"). Zwar gab es Akten, aber Grabungen in einem umzäunten Areal blieben ergebnislos.[4] Das Areal unterlag bereits damals ständigen Überprüfungen durch Messungen und Bodenproben, die keine Auffälligkeiten zeigten. Vier Jahre und einige Monate später rückte der Kampfmittelräumdienst aus Düsseldorf an. Die Spezialisten orteten die Betonsärge und räumten sie im Januar 1976 vollständig aus. Rund 175 m³ kontaminiertes Material aus drei Kammern wurde in über 1.000 Fässer verfüllt und in einem hessischen Kalibergwerk bei Bad Hersfeld[5] in 800 Meter Tiefe für die Ewigkeit deponiert[6]. Über der tiefen Grube in Wahnheide auf dem Gelände des heutigen DLR entstand nach dem Abbrennen der Kavernenwände und dem Verfüllen mit Ton ein Parkplatz.

Denkmäler[Bearbeiten]

Die frühere Direktorenvilla der Dynamitfabrik und der Wasserturm sind in der Linder Höhe heute noch erhalten, beide wurden im Jahr 2000 unter Denkmalschutz gestellt (Nr. 8484).

Quellen, Literatur und Links[Bearbeiten]

  • Zado, R.: Für den Krieg. Die Dynamitfabrik in Lind. 2010. (Aufsatz in Sammelwerk)
  • Trimborn, Friedrich: Die Explosivstoffindustrie im rechtsrheinischen Köln. In: Rechtsrheinisches Köln 29.2003
  1. Kölnische Zeitung v. 17.6.1893.
  2. Erste Pressemeldungen von 200 Toten wurden vom Werk später auf 76 korrigiert, vgl. Kölner Lokal-Anzeiger v. 24.11.1918.
  3. Westdeutsche Landeszeitung v. 25.11.1918.
  4. vgl. KStA Porz v. 13.11.1971 (mit historischen Fotos).
  5. Der Name des Bergwerks wurde damals nicht genannt. Vermutlich handelt es sich um den stillgelegten Schacht Herfa-Neurode in Osthessen, dessen Giftmüll-Deponie 1972 eröffnet wurde.
  6. vgl. KStA Porz v. 7.1. und 14.1.1976 (mit Fotos).